Seit mehr als einem Jahrtausend begleitet das Schachspiel die Menschheit, es fasziniert als Spiel der Vernunft und zieht in seiner Unerschöpflichkeit und Schön heit Mathematiker wie Künstler in seinen Bann. Sein Ursprung ist unbekannt, über Persien und den arabischen Raum er reichte es Europa und erzeugte, wo immer es auftrat, ein gewaltiges kulturelles Umfeld in der Kunst und im Kunsthand- werk, in der Philosophie und in der Literatur:
“Ich habe ein leises Gefühl des Bedauerns für jeden”, schreibt der deutsche Arzt und Großmeister Siegbert Tarrasch, “der das Schachspiel nicht kennt, ungefähr so wie ich jeden bedauere, der die Liebe nicht kennen gelernt hat. Das Schach hat wie die Liebe, wie die Musik die Fähigkeit, den Menschen glücklich zu machen.”
Marcel Duchamp, Avantgardist und wie Tarrasch ein Meister des Spiels, war das Schachspiel inmitten einer lauten Welt eine “Schule des Schweigens” und eine Kunstform. Auf dem Schachbrett entstehen Skulpturen von höchster Logik und Reinheit, die zudem den Vorteil haben, sich während der Partie Zug um Zug selbst zu zerstören.
Der vorliegende Band versammelt Dokumente, Bilder und Texte zur Geschichte des Schachspiels: als eine Geschichte in der Geschichte und als Geschichte einer Leidenschaft. An eine systematische Dar stellung war nicht gedacht und ist nicht zu denken. Wie eine Schachpartie zerfällt sie in tausend Varianten, hinter denen wieder tausend andere darauf hoffen, er zählt zu werden, bevor sie der Strom der Geschichte verschlingt. Einige der Varianten habe ich versucht, so gut und genau es mir möglich war, nachzuspielen und aufzuzeichnen.
Im ersten Teil wurden drei Zeitebenen miteinander verknüpft: Die Geschichte eines Tages, eines Lebens und eines Spiels Im Mittelpunkt steht der polnische Meister Akiba Rubinstein, jener traurige Bruder, den man den Spinoza des Schachspiels nannte und für den die Leidenschaft zur tödlichen Obsession wurde. Auf die Suche nach ihm habe ich mich für einige Zeit begeben, gefunden habe ich ihn nicht. Den Rhythmus der Kapitel in diesem Teil bestimmen die Züge seiner Partie gegen Emst Grünfeld am 5. August 1929 in Karlsbad.
Der Bildatlas im zweiten Abschnitt zeigt die Entwicklung der Motivgeschichte des Schachspiels in der bildenden Kunst als allegorisches Modell der Liebe, des Todes, als Metapher der Moderne für das Funktionieren einer regelgeleiteten und mit den Mitteln der Vernunft beherrschbaren Welt. Ergänzt wird der Bildatlas durch eine Geschichte der Schachfiguren: der künstlerischen Abstraktionen und der Formen des Gebrauchs.
Die Beispiele der Partien und Studien im dritten Teil machen die Entwicklung und Brüche der Regeln und der Stile im Schachspiel deutlich. Sie erfolgen in Homologie zur Entwicklung der Regeln und der Stile in der Kunst und in der Wissenschaft. Die bibliographischen Angaben im vierten Teil sollen einen Einstieg in das Archiv des Spiels und seiner kulturellen Repräsentationen ermöglichen.
Rasch durchgelesen, wie es die Zeit erfordert, in der wir leben, dauert die Lektüre des ersten Teiles etwa so lange wie die Partie Rubinsteins gegen Grünfeld am 5. August 1929 gedauert hat. Für die Anmerkungen und das Nachspielen der Partien benötigt man dann etwas länger.
Emst Strouhal